Ein paar Vorurteile gefällig? Restaurantführer sind für Leute, die bevorzugt teuer essen gehen. Restaurantführer sind Schmuh, weil sich dort Wirte gegen Geld listen lassen, um unbedarfte Gäste anzulocken, denen sie dann das Geld für diese Investition wieder aus der Tasche ziehen. Restaurantführer beschäftigen sich nur mit Haute Cuisine, wo die Preise überhöht und die Portionen winzig sind. Restaurantführer verhindern, dass man Land und Küche auf eigene Faust kennenlernt. Und überhaupt: In Restaurantführern wie dem Guide Michelin oder dem Gault Millau stehen ja auch keine besseren Restaurants als das eigene Lieblingslokal. Und da dieses ohnehin nicht darin zu finden ist, weiß man ja auch schon, was man von Restaurantführern im Großen und Ganzen zu halten hat. Aha.
Ich gebe aber durchaus zu, dass man sich recht schnell an das eine oder andere dieser Vorurteile verlieren kann. Zum Beispiel, wenn man noch nie einen solchen Restaurantführer in der Hand hatte. Und wenn man dann schon von Leuten gehört hat, die nur mit so einem Ding unter dem Arm durch’s Land ziehen – immer auf Köche, Sterne und Hauben fixiert. Und vor allem, wenn man in seiner unmittelbaren Umgebung ohnehin schon überall gegessen hat – insbesondere bei allen XXL-Schnitzel-Wirten, allen Mega-Pizza-Döner-Curry-Asiaten und allen Landgasthöfen mit Jägerpfanne, Paprikahendl und Zigeunersoße. Aber man könnte doch nun versuchen, die Perspektive ein wenig zu verbreitern. Und dann zuerst entdecken, dass zum Beispiel der aktuelle Guide Michelin für Deutschland zwar ganze 1176 Seiten umfasst, aber nur 292 Sternerestaurants – dafür aber insgesamt mehr als 2300 Restaurants mit einer Empfehlung, und sogar fast 500 mit einem Hinweis auf ein besonders herausragendes Preis-Leistungs-Verhältnis. Und dazu noch mehr als 1970 Hotels. Und das beste daran: Alles eben nicht nur in den allerhöchsten, dünnsten Preisregionen, sondern durchweg in allen Bereichen. Und recht ausgewogen im Verhältnis, wenngleich nicht unbedingt geographisch immer gleichmäßig verteilt – naturgemäß ist der Südwesten hier deutlich besser dran als Norden und Osten zusammen.
Und natürlich bezahlen die Wirte kein Geld, um in den Führern gelistet zu werden – das würde ja schließlich auch dem Prinzip solcher Handbücher widersprechen. Nein, stattdessen gibt es in den aufgeführten Häusern einfach nur gutes Essen – und in manchen eben derart gutes, dass sich eine eigene Reise dorthin durchaus lohnen kann. Wenn man dort dann übrigens über nicht allzu große Portionen bei enormen Preisen staunt, kann es auch ganz einfach sein, dass nicht billige Zutaten und vor allem ganz enorm viel Arbeit in der Zubereitung stecken. Man sollte sich also nicht immer gleich betrogen fühlen, nur weil man viel bezahlt, aber vielleicht auf den ersten Blick wenig bekommen hat. Oder: Zumindest nicht, bevor man probiert hat. Ach ja, und das Kennenlernen von Land und Küche auf eigene Faust. Freilich: Das ist schon möglich. Aber auch nur dann, wenn dieses Land eine einigermaßen hohe Dichte guter Küchen aufzuweisen hat. In Baden oder in Franken würde ich mir da keine Sorgen machen. In Anhalt, Mecklenburg oder dem Emsland könnte es aber unter Umständen ein wenig anders aussehen. Und wie viele Versuche auf eigene Faust wird man unternehmen können, bis der Hunger die eigenen Prinzipien besiegt?
Schließlich muss ich aber doch gestehen, dass ich noch gar nicht so lange mit einem Restaurantführer im Gepäck unterwegs bin, oder einen solchen zumindest zur Reisevorbereitung nutze. Denn davon abgesehen, dass dort, wo ich meistens unterwegs bin (Südwesten, Rheinland, Franken, Altbayern, Frankreich, Belgien und Norditalien), die Küche ohnehin verhältnismäßig zuverlässig ist, sah ich den regelmäßigen Erwerb eines solchen Handbuchs auch recht lange als gar nicht so unbedingt notwendig an. Und entdeckte dann, als ich ihn einmal hatte, so viele Lokale, in denen ich hätte essen können, wenn ich sie nur gekannt hätte, und verglich das mit dem, das ich tatsächlich bekommen habe und manchmal essen musste – wie traurig! Seitdem kommt mir ein solches Büchlein regelmäßig ins Haus: Nicht jedes Jahr, und nicht immer für Deutschland. Und schon gar nicht, um nur Sterne und Hauben zu besuchen. Sondern um das zu tun, wofür Restaurantführer eigentlich und sinnvollerweise gedacht sind: Um auch dort, wo man sich nicht auskennt, möglichst gut und idealerweise möglichst preiswert zu essen. Ohne Stress. Und vor allem, ohne vor Hunger so ungeduldig zu werden, dass man einfach irgendwo hingeht, wo es nur gibt, was deutlich schlimmer ist als teures, aber gutes Essen: Teures und schlechtes Essen. Letzteres vermeiden zu können scheint mir tatsächlich unerhörter Luxus – und dafür sei den Herausgebern, Testern und Inspektoren solcher Handbücher allergrößter Dank gesagt!
p.s. das zweite Bild zeigt selbstverständlich die Seiten 458 und 459 des Guide Michelin Deutschland 2017, der mir aufmerksamerweise auf den Gabentisch gelegt wurde – und dazu mindestens eine Empfehlung für ein Restaurant, in dem ich immer gerne esse.