Seien wir ehrlich: Die Rotweinkaraffe gehört wahrscheinlich zu den überflüssigsten und am meisten überschätzten Dingen, die sich in einem normalen Haushalt finden lassen. Und zu jenen übrigens, die sich immer dann in den Vordergrund drängen, wenn man sie gerade überhaupt nicht brauchen kann. Bei meinem letzten Umzug zum Beispiel stak die verdammte Karaffe so ziemlich in jeder Kiste, die ich auf der Suche nach Notwendigerem durchwühlte – das Gesuchte indes fand sich meist erst nach Wochen wieder an, wenn man eigentlich längst so weit sein hätte können, nach erfolgter Einrichtung entspannt ein Glas Wein zu trinken. Aber darum geht es hier eigentlich gar nicht. Sondern: Dass die Weinkaraffe exemplarisch für manches steht, das wir uns einreden lassen, obwohl es in den meisten Fällen schlichtweg überflüssig ist, und mit dem wir versuchen, an anderer Stelle unternommene Sparsamkeit mit modischem Pomp zu überdecken. Und genau in diese Kategorie gehört die Rotweinkaraffe – zumindest in den meisten Fällen.
Dabei ist es ja keineswegs so, dass solche Karaffen grundsätzlich überflüssig wären. Nein, sie taugen nur einfach nicht zu dem Zweck, zu dem sie in der Regel eingesetzt werden: Den Wein atmen zu lassen. Der Grund dafür ist simpel: Wein atmet nicht. Er reift. Wenn er halbwegs anständig ist. Ist er das nicht, wird er nur schnell alt und kippt dann um. Ob man dieses Prinzip auch auf Menschen übertragen kann, die nicht mal halbwegs anständig sind? Egal. Tatsächlich ist es einfach so, dass Rotwein unterschiedlich ausgebaut wird. Die traditionelleren und teureren Erzeuger machen ihren Rotwein meist so, dass er unbedingt ein paar Jahre gelagert werden, bevor man ihn überhaupt erst trinken kann. Bei anständigem Bordeaux ist das so, und in manchen anderen Gegenden ebenfalls. Kippt man eine solche Flasche in die Karaffe, um sie atmen zu lassen, dann hat man unter Umständen sehr schnell aus einer sehr teuren Flasche ein sehr enttäuschendes Erlebnis gemacht, weil zwei, drei Stunden vergrößerter Luftkontakt in der Karaffe natürlich niemals die natürliche, über mehrere Jahre andauernde Reife in der Flasche ersetzen können.
Auf der anderen Seite gibt es da jene Rotweine, die dafür gemacht sind, mehr oder weniger sofort getrunken zu werden. In diese Riege gehört fast alles, das man für einen einstelligen oder allenfalls geringfügig zweistelligen Preis bekommt – Ausnahmen sind rar, bestätigen hier aber die Regel. Solchen Rotwein, der dem Erzeuger oft schnellen Gewinn und dem Trinker oft noch schnelleren Kater verspricht, kann man gar nicht lagern, da er nicht darauf ausgelegt ist, überhaupt zu reifen. Stattdessen kippt er oft einfach sofort um. Auch für solche Weine braucht es keine Karaffe, denn was schon darauf ausgerichtet ist, unmittelbar nach Kauf und Halsbruch in optimaler Verfassung zum sofortigen Trunke zu sein, das kann doch logischerweise durch mehrstündiges Atmen in der Karaffe nicht mehr besser werden.
Wozu dann die Karaffe? Man braucht sie nicht, wenn man einen großen Weinkeller mit ausreichend Platz hat, um mehrere Jahrgänge feiner Sachen ordentlich durchzureifen. Und man braucht sie ebensowenig, wenn man eher von der Flasche in den Hals lebt. Aber: Man kann sie brauchen, wenn man sich nur sehr geringfügig beim Reifegrad verschätzt hat. Dann, und auch nur dann, bewirkt das Karaffieren, dass sich innerhalb kurzer Zeit eine vielleicht unmittelbar nach Öffnen noch merkbar vorhandene Holznote abflacht und so die ganze Vielfalt an Geschmacksnoten, zu der anständiger Wein in der Lage ist, freigibt. Also zum Beispiel, wenn man, wie mir hier hier geschehen, eine fünfjährige Rosso Contado Reserva öffnet, die eigentlich gerade so weit sein müsste, und es definitiv in ein paar Monaten auch wäre – nur eben jetzt noch nicht. Nur in solchen Fällen lohnt es sich, den Wein behutsam zu karaffieren und dann ein wenig stehen zu lassen. Andererseits: Würde man die Flasche schon mit sechs Stunden Vorlauf öffnen und dann offen stehen lassen, wäre das Ergebnis wohl kaum schlechter. Aber freilich: Wie oft wird man schon an genau solche Flaschen geraten? Mir passiert es nicht öfter als zwei, drei Mal pro Jahr. Und damit dürfte sich die Frage, ob man sich eigens eine Karaffe anschaffen sollte, schließlich auch erübrigt haben. Denn: Als normaler Trinker braucht man sie einfach nicht.
Gewarnt sei übrigens vor jenen erstaunlichen Grausamkeiten wie Ausgießern mit Dekantiereffekt oder Behältnissen, die über eine Art Pumpe verfügen oder mittels Dichtung auf die Flasche aufgesetzt werden, um den Wein unter nochmals erhöhtem Luftkontakt wieder in dieselbe zurückfließen zu lassen – wer an derlei Tricatel’sche Künstlichkeiten auch nur denkt, hat ganz gewiss keinerlei Schonung verdient und sollte vielleicht einfach auf Bier umsteigen. Was ja auch nicht schlecht ist.