Zugegeben: Es war eiskalt. Und der See war bei der Ankunft auf der Passhöhe in dichten Nebel gehüllt, der in Minutenschnelle bis über das Hospiz aufstieg und die gesamte Umgebung in dichte, graue Undurchsichtigkeit hüllte. Und natürlich ließen sich keine Bernhardiner mit Schnapsfass sehen. Nicht einmal Bernhardiner ohne Schnapsfass. Und separate Schnapsfässer auch nicht. Dennoch war diese Alpenüberquerung über die Passstraße des Großen Sankt Bernhard in den Walliser Alpen an einem eigentlich sehr sonnigen Septembernachmittag eine großartige Sache. Und das nicht nur, weil der klassische Weg über die Alpen nun einmal nicht hoch durch die Luft oder durch unendlich tiefe, lange Tunnel führt, sondern über Passstraßen. Das hat Hannibal samt seinen Elefanten so gemacht (die freilich unterwegs fast vollständig verlorengingen, wenngleich vermutlich nicht auf diesem Pass), und auch Napoleon hat es so gemacht (er wiederum ohne Elefanten, dafür ganz sicher über diesen Pass). Und natürlich haben es im Laufe der Jahrhunderte noch ganz viele andere so gemacht, denn Pässe wie der Große Sankt Bernhard, der Brenner, der San Bernardino oder der Gotthard waren schlichtweg die einzige Möglichkeit, um über die Alpen zu kommen.
Diese einzige Möglichkeit sind die alten Passstraßen zwar nicht mehr, aber sie sind, sofern man ein wenig Zeit hat, immer noch die interessanteste. Das unglaubliche, karge und beeindruckende Bergpanorama ist atemberaubend, Straßenführung und Kurvenradien sind es ebenfalls, und der Gedanke daran, eben nicht schon wieder durch den Gotthard gefahren zu sein, ist es ohnehin. Von Montreux kommend (wo der Ausblick von der hoch gebauten Autobahn auf den Genfer See herrlich ist), folgt man dem Lauf der Rhône nach Süden, um ab Martigny zunächst sanft, dann immer steiler in die Höhe zu steigen. Nachdem man Bourg-Saint-Pierre durchquert hat, könnte man noch einen Rückzieher machen: Auf knapp 1900 m Höhe gäbe es noch einen Straßentunnel. Aber erstens sind die Gebühren dafür mindestens so atemberaubend wie der Ausblick von der Passhöhe, und zweitens wollte man ja die Passstraße nehmen. Zu letzterer muss man allerdings sagen: Man sollte kein ängstlicher Autofahrer sein. Und nicht unbedingt eine schnaufende Schaukelkiste fahren. Denn die Passstraße ist so, wie man sich eine Passstraße romantischerweise vorstellt: So schmal, dass es bei Gegenverkehr beängstigend knapp werden kann, an der Bergseite durch den natürlichen Fels und auf der Talseite meistens gar nicht befestigt, steil ansteigend, durch schier unglaubliche Kurvenradien geführt und immer wieder mit unübersichtlichen Engstellen durchsetzt – man sollte seinen Wagen also einigermaßen im Griff und zuvor nicht an der Wartung gespart haben. Belohnt wird man dann durch das herrlichste Bergpanorama und, wenn man Glück hat, auch noch durch Sonnenschein auf der Passhöhe.
Da es letzteren nicht gab, noch ein wenig Praktisches: Man kann natürlich, wenn der Weg von Norden schon einigermaßen weit war, und der weitere Weg nach Süden es ebenfalls ist, auf dem Pass übernachten – entweder im Hospiz oder kurz dahinter, dann schon in Italien. Oder man folgt der Passstraße wieder an die 900 m in die Tiefe und verbringt die Nacht in Saint-Rhémy-en-Bosses, wo ich im Hotel Suisse eine komfortable Übernachtung und ein absolut erstklassiges Abendessen bekam, und wo es außerdem nicht mehr ganz so kalt war. Zusätzlich ist der Ort interessant, weil er seine eigene Schinkenappellation hat: den Jambon de Bosses DOP, einen luftgetrockneten, mit Bergkräutern gewürzten Schinken. Man könnte natürlich auch noch weiter bis Aosta fahren, aber da ist man dann schon wieder verhältnismäßig weit unten. Freilich: Wenn man nur von Freiburg nach Turin möchte, kann man das an einem Tag machen. Da es allerdings von weiter nördlich Richtung Nizza ging, war eine Übernachtung nach etwa der Hälfte der Strecke ideal, um am nächsten Tag entspannt und nicht zu spät an der Côte-d’Azur anzukommen.
Und schließlich noch eine kleine Einschränkung: Wie die meisten Passstraßen über die Alpen ist der Große Sankt Bernhard im Winter geschlossen. Zu viel Schnee war schließlich schon für Hannibals Elefanten eines der größten Hindernisse. Aber was sollte man auch im Winter mit Elefanten im Gebirge anfangen?